Gegen Polio geimpft – oder etwa doch nicht?

HZI-Studie an digitaler Kohorte zeigt Unterschiede zwischen dokumentierter und selbstberichteter Polioimpfquote

DZIF-Wissenschaftlerin Dr. Carolina Klett-Tammen, stellvertretende Leiterin der Klinischen Epidemiologie in der Abteilung "Epidemiologie" des Helmholtz Zentrums für Infektionsforschung (HZI)

© HZI/Verena Meier

Die Poliomyelitis, auch bekannt als Kinderlähmung, ist eine ansteckende Krankheit, die durch das Poliovirus verursacht wird. Durch die Entwicklung wirksamer Impfstoffe konnte das Poliovirus weit zurückgedrängt werden und war 2024 nur noch in zwei Ländern endemisch. Bis das Virus weltweit ausgerottet ist, ist aber auch in Deutschland ein Impfschutz wichtig, da das Virus jederzeit wieder eingeschleppt werden könnte. Epidemiolog:innen des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) haben nun gezeigt, dass viele Menschen ihren Impfstatus nicht kennen und nicht aus ihrem Impfpass ablesen können. DZIF-Wissenschaftlerin Dr. Carolina Klett-Tammen, stellvertretende Leiterin der Klinischen Epidemiologie in der Abteilung „Epidemiologie“ des HZI, spricht im Interview anlässlich des Welt-Poliotags am 24. Oktober über die Studienergebnisse, die im Fachjournal BMC Public Health erschienen sind. 

In Deutschland sind seit mehr als 30 Jahren keine Poliofälle aufgetreten. Was hat euch bewogen, euch mit dem Polioimpfschutz in Deutschland zu beschäftigen?

Wir haben den Bericht von Ende 2024, dass das Robert Koch-Institut (RKI) in mehreren deutschen Großstädten Polioviren im Abwasser gefunden hat, zum Anlass genommen, den Polioimpfstatus näher zu untersuchen. Dafür haben wir einen Kohortendatensatz genutzt, den wir bereits vorliegen hatten. Das Ergebnis hat uns sehr überrascht, denn die Impfquote war viel niedriger als allgemein aus Bevölkerungsuntersuchungen angenommen wird.

Wie seid ihr dann vorgegangen, um den Impfstatus tiefergehend zu untersuchen?

Mehr als 1.000 Proband:innen in der Kohortenstudie PCR-4-ALL haben einen Fragebogen beantwortet. Mithilfe dieser digitalen Kohorte untersuchen wir eigentlich Teststrategien in Ausbruchssituationen, um besser auf Pandemien vorbereitet zu sein. Die Proband:innen testen sich in der Erkältungssaison wöchentlich auf das Respiratorische Synzytialvirus (RSV), Influenza und SARS-CoV-2 und melden über die digitale HZI-Anwendung PIA (Prospektive Monitoring und Management-App), ob bei ihnen Symptome auftreten.

Anlässlich des Funds von Polioviren im Abwasser haben wir beispielhaft untersucht, ob wir auch kurzfristig den Immunitätsstatus der Kohorte untersuchen können. Die Proband:innen haben uns sowohl Angaben zu dokumentierten als auch zu selbst erinnerten Polioimpfungen gemacht – also solchen, an die sie sich erinnern, erhalten zu haben.

Was habt ihr bei der Auswertung der Fragebögen herausgefunden?

Bei 20 Prozent der Menschen ist eine erinnerte Polioimpfung nicht im Impfpass dokumentiert. Wenn wir versuchen, nur anhand der Impfpässe die Impfquote zu erfassen, unterschätzen wir diese also unter Umständen. Außerdem konnten die Proband:innen bei 40 Prozent der dokumentierten Impfdosen anhand des Impfpasses nicht erkennen, welchen Polioimpfstoff sie bekommen haben. Entweder ist dies nicht gut dokumentiert oder sie können es nicht lesen. 

Wir sehen anhand der selbstberichteten Annahmeraten auch, dass die Impfquote in der Bevölkerung höher sein sollte, um einen wirksamen Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten. Aber die wichtigste Erkenntnis unserer Studie sind die hohen Differenzen zwischen dokumentierten und selbstberichteten Impfquoten.

Was können Menschen denn jetzt tun, wenn sie nicht sicher sind, ob sie einen ausreichenden Impfschutz gegen Polio haben? 

Das RKI bietet hilfreiche Entscheidungsbäume, um zu bestimmen, ob der Impfschutz vollständig ist. Abhängig vom Geburtsdatum und den verwendeten Impfstoffen ist es aber recht komplex festzustellen, ob man eine Auffrischungsimpfung benötigt – das zeigt ja auch unsere Untersuchung. Meine Empfehlung ist daher, den Impfpass zum nächsten Termin beim Hausarzt oder bei der Hausärztin mitzunehmen und dort kontrollieren zu lassen.

Auch in aktuell poliofreien Ländern wie Deutschland ist eine hohe Impfquote wichtig. Das Ziel ist, Polio global auszurotten. An dieses Ziel erinnert auch der jährliche Welt-Poliotag am 24. Oktober. Daher müssen wir auch bei uns versteckte Lücken in der Immunität ermitteln und versuchen, dagegen anzugehen. Der erste Schritt dahin ist die valide Ermittlung der impfinduzierten Immunität in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Das Ziel der weltweiten Ausrottung von Polio kann nur durch gemeinsame Anstrengungen erreicht werden – auch in Ländern, in denen das Virus derzeit nicht zirkuliert.

Originalpublikation:
Kettlitz, R., Harries, M., Contreras, S. et al. Self-reported poliomyelitis vaccination and documentation in adults indicates high uptake: a digital German epidemic panel, December 2024. BMC Public Health 25, 3514 (2025).
DOI: 10.1186/s12889-025-24865-9

Originalmeldung: Website des HZI 

Zusätzliche Informationen: Polioviren im Abwasser

Eine Studie des Robert Koch-Instituts hat Ende 2024 im Abwasser von mehreren deutschen Großstädten Polioviren nachgewiesen. Dabei handelt es sich nicht um das wilde Poliovirus, das nur noch in zwei Ländern der Welt vorkommt. Stattdessen gehen die nachgewiesenen Erreger auf die Schluckimpfung mit dem abgeschwächten, aber lebenden Virus zurück. Nach der Schluckimpfung können die Impfviren von der geimpften Person für einige Zeit ausgeschieden werden. Zirkulieren die abgeschwächten Impfviren länger, können sie sich genetisch so verändern, dass sie wieder krank machen können. In Deutschland wird seit 1998 ausschließlich mit einem Impfstoff geimpft, der per Spritze verabreicht wird und inaktivierte Polioviren enthält. 

Weiterführende Links:

Informationsseite des Robert Koch-Instituts zu Poliomyelitis

Informationen der Weltgesundheitsorganisation zum Welt-Poliotag

Aktionsseite zum Welt-Poliotag