Von Miami nach Berlin: Tierischer blinder Passagier deckt versteckte globale Gesundheitsrisiken auf
DZIF-Forschende entwickeln standardisierte Arbeitsabläufe zum Erreger-Screening nach außergewöhnlichem Flugzeugvorfall
Ratten der Art Rattus rattus (im Bild) können gefährliche zoonotische Krankheitserreger wie Leptospira interrogans (Leptospirose), Streptobacillus moniliformis (Rattenbissfieber), Seoul-Orthohantavirus und das Ratten-Hepatitis-E-Virus übertragen.
Im Jahr 2017 nahm ein Flug von Miami nach Berlin eine unerwartete Wendung, als von den Passagieren eine Ratte beobachtet wurde. Nach der Landung wurde das Tier eingefangen und an das Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) übergeben. Dort sah man in ihr nicht nur ein Ärgernis, sondern auch die Chance, sie als potenzielle Überträgerin von Krankheitserregern zu testen. Untersuchungen von Wissenschaftler:innen des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF), in Zusammenarbeit mit vielen weiteren Wissenschaftler:innen des Netzwerkes „Nagetier-übertragene Pathogene (NaÜPa-net)“, ergaben nur wenige zoonotische und nicht-zoonotische Erreger. Der Vorfall verdeutlichte jedoch, wie leicht Krankheitserreger über Kontinente verbreitet werden können – und warum standardisierte Untersuchungen von tierischen blinden Passagieren so wichtig sind. Die Ergebnisse wurden kürzlich im Journal Scientific Reports veröffentlicht.
Ratten – insbesondere die Arten Hausratte Rattus rattus und Wanderratte Rattus norvegicus – gehören zu den erfolgreichsten Mitreisenden der Menschheitsgeschichte. Seit Jahrhunderten reisen sie auf Schiffen, Zügen und Lastwagen mit und verbreiten sich so. Mit Millionen von Flügen jährlich steigt auch ihre Chance, als „blinde Passagiere“ ungebeten Kontinente zu überqueren. Ratten können gefährliche Zoonoseerreger wie Leptospira interrogans (Leptospirose), Streptobacillus moniliformis (Rattenbissfieber), Seoul-Orthohantavirus oder das Ratten-Hepatitis-E-Virus übertragen. Diese Infektionen können beim Menschen schwere Krankheiten auslösen.
In diesem Fall wurde die Ratte von Passagieren zwar auf dem Flug von Miami nach Berlin beobachtet, befand sich aber möglicherweise schon seit dem Abflug der Passagiermaschine aus Dubai im Flugzeug. „Ratten sind wahre Weltenbummler. Wo immer Menschen reisen oder Waren transportieren, können Ratten folgen – und ihre Mikroben gleich mitbringen“, erklärt Prof. Rainer Ulrich, DZIF-Wissenschaftler am FLI und Seniorautor der Studie.
Ergebnisse eines umfassenden Erreger-Screenings
In den Hochsicherheitslaboren des FLI wurde die Ratte seziert und Proben verschiedener Gewebe und Blutproben am FLI und bei den zahlreichen Netzwerkpartnern untersucht. Dabei kam eine mehrschichtige Screening-Strategie zum Einsatz, die Bakterienkulturen und -charakterisierung, Hochdurchsatz-Sequenzierung sowie spezifische Methoden wie PCR, RT-PCR und Multiplex-Serologie umfasste. Dieser „All-Tools-on-Deck“-Ansatz führte zu einem umfassenden Workflow, der künftig als Modell für ähnliche Fälle im Luft- und Seeverkehr dienen kann.
Die Ergebnisse waren beruhigend und aufschlussreich zugleich: Gefürchtete Erreger wie Hantaviren, Leptospiren oder das Ratten-Hepatitis-E-Virus wurden nicht gefunden – das Infektionsrisiko für Passagiere und Crew war also sehr gering. Allerdings wurde ein Methicillin-sensibler Staphylococcus aureus (MSSA)-Keim in Nase und Darm der Ratte entdeckt. Genomanalysen zeigten, dass dieser fast identisch mit in Europa und Nordamerika verbreiteten Stämmen ist und menschenspezifische Gene zur Immunabwehr trägt – ein Hinweis auf Übertragungen zwischen Mensch und Ratte.
„Das Überraschende war nicht, was wir nicht gefunden haben, sondern was wir fanden: einen Staphylococcus aureus-Stamm, der fast identisch mit menschlichen Varianten ist. Das zeigt, dass Ratten unsere Erreger aufnehmen – und möglicherweise zurückgeben können“, so Prof. Ulrich, der im DZIF-Forschungsbereich „Emerging Infections“ tätig war.
Zudem wurden zahlreiche weitere Bakterien- und Pilzgattungen entdeckt, darunter meist harmlose Kommensalen wie Darmbakterien der Gattungen Lactobacillus oder Ligilactobacillus sowie opportunistische Erreger wie Enterobacter cloacae und Klebsiella aerogenes. Außerdem identifizierte das Team vier neue Virus-Genomsegmente der wenig erforschten Picobirnaviridae-Familie.
Globale Verbreitung, unsichtbare Risiken
Die Studie macht deutlich, dass das Risiko nicht nur in den gefundenen Erregern, sondern auch in dem liegt, was künftig auftreten könnte. Während Ratten früher vor allem per Schiff von Kontinent zu Kontinent gelangten, können sie heute dank des globalen Flugverkehrs in weniger als 24 Stunden von Dubai über Miami nach Berlin reisen und dabei Viren über drei Kontinente hinweg mitbringen.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Ratten nicht nur städtische Schädlinge sind. Sie sollten als aktive Akteure im globalen Netzwerk der Erregerverbreitung angesehen werden“, betont Prof. Ulrich.
Vom Vorfall zur Vorbereitung
Die Studie liefert erstmals eine Blaupause für den Umgang mit Tieren, die an Bord eines Flugzeugs entdeckt werden. Die Empfehlungen umfassen das sofortige Einfangen und Isolieren der Tiere, im Einklang mit Vorgaben von WHO und IATA, sowie einen standardisierten Labor-Workflow für ein umfassendes Erreger-Screening. Damit könnten im Ernstfall – etwa bei einem Hantavirus-Befund – sofort Kontaktverfolgung, Desinfektion und weitere Maßnahmen eingeleitet werden.
Ausblick: Ratten als One-Health-Indikatoren
Die Forschenden sehen Ratten als künftig wichtige Indikatoren für die Gesundheit von Ökosystemen. Geplant ist, die Herkunft solcher Tiere durch genetische Analysen nachzuvollziehen. Im vorliegenden Fall zeigte die mitochondriale DNA, dass die Ratte einer weltweiten Linie der Hausratte angehört. Ob sie in Miami oder Dubai zugestiegen war, blieb jedoch unklar.
„Dies war ein Weckruf“, resümiert Prof. Ulrich. „Er zeigte, wie verletzlich unsere vernetzte Welt gegenüber versteckten Erregern ist, aber auch, dass die Wissenschaft praktische Lösungen bereitstellen kann.“
Die Untersuchung wurde von einem Konsortium, an dem das FLI, das Robert Koch-Institut, die Universitätsmedizin Greifswald, die Universität Leipzig, die Universitätsmedizin Göttingen und weitere Partner beteiligt waren, durchgeführt und vom DZIF unterstützt.